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Ein Spaziergang in Nepal oder warum quält man sich unter dem Dach der Welt

Das Flugzeug fängt an zu wackeln. Dann kippt es plötzlich nach links runter. Wir sind nicht sehr hoch und ich kann die Felder und ein paar Häuser sehr gut erkennen. Fast schon zu gut. Der Pilot reißt die kleine Maschine wieder nach rechts in Schieflage. Ich sehe zum anderen Fenster unter mir nur ein langes graues Feld. Die Maschine wackelt bedenklich jetzt wieder in die andere Richtung. Der Pilot will ja wohl nicht auf dem Feld landen. Doch, er will und muss. Denn das, was sich als Acker für mich darstellt, ist die Landepiste von Jumla. Wir werden kräftig durcheinandergeschüttelt als wir aufsetzen. Als wir dann auf der Landepiste ausrollen oder besser gesagt aushoppeln kommt schon eine gewisse Dankbarkeit auf. Wir sind wohl nicht am Ende der Welt angekommen, aber scheinbar kurz davor. Im nordwestlichen Teil von Nepal kurz vor der Tibetischen Grenze ist vieles ganz anders. Keine Autos, keine Leuchtreklame und kein Flughafengebäude. Dafür viele Menschen, die auf den Hüttendächern sitzen.

Hier in den Bergen möchte ich 2 Schulen besuchen, die ich mit Freunden finanziell unterstütze. Die Schulen gehören zur Kailash-Bodhi-School, die vom Förderkreis Patenschulen e.V. in Kirchentellinsfurt gefördert wird. In Simikot, unserem Zielort, soll die Schule erweitert und neu gebaut werden und wir vom Förderkreis Patenschulen wollen vor Ort die Möglichkeiten uns anschauen, da wir den Grundstückskauf finanziell unterstützen wollen.

„Wenn die Kinder nicht in die Hauptstadt zur Schule kommen können, muss die Schule halt zu den Kindern kommen“ hat die Schulleiterin aus Katmandu gesagt. Deswegen wurden neben der Schule in der Hauptstadt die Schulen hier oben aufgebaut.

Beide Schulen sind 170 km von einander entfernt. Da es keine Autos und sonstige Transportmittel gibt müssen wir halt laufen. Zum Glück weiß ich hier noch nicht was wirklich auf mich zukommt. Vor einigen Tagen waren wir noch in Katmandu, der Hauptstadt von Nepal, die bunt und laut ist. Dort wo das Leben auf der Straße stattfindet und es keinen stört, dass zwischen Tomaten und Apfelsinen, die auf der staubigen Straße auf einem Tuch zum Verkauf ausgebreitet sind, Mopeds und Autos herumkurven. Ich mag als Tourist diese Stadt, auch wenn sie gewöhnungsbedürftig ist. Eintauchen in eine andere Welt. Miterleben wie Menschen scheinbar zufrieden in ziemlicher Bescheidenheit leben. Allerdings auch aushalten können, wenn Menschen zwischen Müll und Autogestank sich auf den Boden legen und schlafen weil sie kein zu Hause haben. Manche Bilder darf ich nicht an mich ranlassen. Hier in Jumla ist es ähnlich. Auch hier findet das Leben auf der Straße statt. Nur alles ist noch einfacher als in Katmandu…

40 Kinderaugen schauen mich erwartungsvoll an. Ich bin in einem Klassenraum. Lehmboden, ein Holzbalken als Sitzbank knapp über dem Boden, ein etwas breiterer Balken etwas höher, das ist der Tisch. So einfach ist der Klassenraum eingerichtet. Hier in den Bergen wird mir jetzt der Sinn von Schuluniform klar. Alle haben das gleiche an: grün und weiß mit Krawatte. Das übertüncht fürs Grobe die sozialen Unterschiede. Nur wenn man genauer hinschaut merkt man den Unterschied. Da sitzen und stehen wir uns gegenüber und begutachten uns gegenseitig. Als ich mit der Digitalkamera Bilder mache und sie dann den Kids zeige ist der Bann gebrochen. Jeder will sich auf dem Bild sehen. Sie lachen und freuen sich wenn sie sich sehen. Heute ist Luftballontag. Überall in den Klassenräumen werden Luftballons aufgeblasen. Die Kids haben ihren Spaß daran. Wenn einer kaputt geht ist es auch nicht so schlimm. Dann wird mit dem kaputten halt weitergespielt. Wo ist das Problem? Am nächsten Tag müssen wir schon um 6 Uhr aufstehen, damit wir um 8 Uhr loslaufen können. So sieht die nächsten 10 Tage jeder Morgen aus. Warum wir dann gleich den steilen Berg hinauf müssen verstehe ich nicht, aber es gibt keine Alternative. 2 Stunden geht es steil bergauf. Ich bilde das Schlusslicht. Die anderen sehe ich oft nur als ganz kleine bunte Punkte weit über mir. Irgendwann schaffe ich diesen Anstieg auch. Danach geht es dann wieder steil runter. Kein richtiger Weg, eher so ein Trampelpfad im Geröll. Viel Kraft geht verloren um das Gleichgewicht zu halten. Unten gibt es dann eine Erfrischung. Abends geht es oft bis 18 Uhr. Mir sind solche Gewalttouren zu lang. Ab 15 Uhr bekomme ich in der Regel nichts mehr von der Landschaft mit. Nur noch ankommen heißt die Devise. Wir übernachten in Zelten und im warmen Schlafsack träume ich vom Paradies und von einer Rolltreppe in den Bergen.

Sie saß mit ihrem Mann und ihrem Kind am Wegesrand. Und auf den ersten Blick sah man, dass sie Schmerzen hatte. Sie hatte Zahnschmerzen. Tja welch ein Glück, dass wir eine Zahnärztin dabei hatten. „Der Zahn muss raus“ war der kurze Kommentar. Aber Spritze und Zange wurden von den Sherpas getragen und waren im Moment nicht greifbar. Also gab es ein paar Schmerztabletten. Heute Abend könnten wir ihr richtig helfen, wenn wenn unser Gepäck da wäre. Mit den Tabletten lassen wir sie zurück. Mehr geht nicht. Man muss in dieser Ecke der Welt viel aushalten. Auch heute war es wieder ein langer Tag. Wir werden am Rande eines Dorfes übernachten. Die Armut ist hier schon sehr groß. Von den 120 Menschen sind ca. 20 Frauen, 95 Kinder und 5 Männern. Viele Kinder haben in den letzten 5 Jahren, so scheint es, ihre Sachen nie ausgezogen oder gewechselt. Körperlich gewachsen sind sie trotzdem. Und wir sitzen ihnen gegenüber mit unseren Hightech-Klamotten mit Garantieanspruch. Das ist auch für mich nicht einfach auszuhalten. Aber viel ändern kann ich im Moment auch nicht. Von außen betrachtet sieht es schon sehr komisch aus. Hier 10 westliche Touris, die auf einer Treppe sitzen. Dort mit 10 Meter Abstand 50 Kinder, die aus dem Dorf zum Zeltplatz gekommen sind. Jeder betrachtet den anderen. Was sie denken kann ich noch nicht mal erahnen. So wie es aussieht werden sie nie in ihrem Leben eine gute Chance bekommen. Lebenserwartung: nicht drüber nachdenken.

Plötzlich steht sie vor uns. Die Frau vom Wegesrand mit den Zahnschmerzen ist da. Sie ist mit ihrer Familie uns hinterhergelaufen. Kurzer Hand wird das Küchenzelt zum Behandlungszimmer umfunktioniert. Nach einer Stunde sind der Zahn und 3 Wurzeln draußen. Geht doch auch ohne Krankenschein Und sie kann auch wieder ein wenig lächeln. Unerwartete Hilfe aus dem Nichts für sie. In manchen Abschnitten der Tour fühle ich mich wie vor 100 Jahren zurückversetzt. Tür an Tür leben Mensch und Vieh. Ackerbau geschieht mit einfachem Holzpflug und Wasser wird aus dem Fluss oder einem Bach geholt. Die Menschen sind sehr freundlich uns gegenüber. Aber sie schauen genauso ungläubig uns an, wie wir es tun.

Nach 10 Tagen stehe ich vor einem großen Berg. 800 Höhenmeter schlängeln sich in Serpentinen hinauf. Ganz oben soll Simikot sein, der Zielort unserer Reise. Ganz oben will ich auch Renate treffen, meine deutsche Bekannte, die dort an einem Alphabetisierungsprogramm arbeitet. Nach ganz oben braucht man nur eine Stunde heißt es. Aber von ganz oben knallt auch die Sonne mit fast 30 Grad auf mich. Und ganz unten habe ich nichts mehr zu trinken und meine Kondition ist noch weiter unten. Nach einer gefühlten Ewigkeit komme ich nach knapp 3 Stunden am Zielort an. Endlich was zu trinken. Kurz vor unserer Unterkunft höre ich eine bekannte Stimme. „Hallo Michel wie siehst denn du aus?“ klingt es mit schwäbischem Akzent. Ich will es gar nicht wissen wie ich aussehe. Mein Gefühl reicht mir. „Herzlich willkommen bei mir in Semikot“. Und weil ich ziemlich platt aussehe, werde ich gleich zum Kaffee eingeladen nach nepalesischer Braukunst. D.h. Holz sammeln und klein hacken, dann in einem Ofen anzünden und nach einer Weile Wasser drauf stellen bis es kocht. Das Pulver kommt ins Wasser und fertig ist der Kaffee. Dauert etwas länger aber in diesem Moment ist es mir echt egal. Und nach der Tour schmeckt mir jeder Kaffee. Im kleinen Materialraum steht ein Bettgestell und davor liegt noch eine Reisetasche. “Willkommen in meiner Wohnung in Simikot“. Renate hat Humor bzw. weiß die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Immerhin hat sie einen tollen Balkon mit Blick auf die schneebedeckten Berge. Eine Stunde später stehen wir auf dem Schulgelände der Kailash-Bodhi-School in Simikot. Auch hier strahlen uns viele Kinderaugen an. Das Schulgebäude sieht eher wie ein kleines Einfamilienhaus aus. Die 3 Klassenräume platzen aus den Nähten. Vor der Schule zeigt uns der Leiter der Schule das neue Grundstück auf dem die neue Schule errichtet werden soll. 10 Klassenräume sollen entstehen. Damit hätte die Schule Platz und das Grundstück ist mitten im Ort. Aber auch hier oben in den Bergen sind die Grundstückspreise explodiert. Es wird viel gebaut in Simikot. Aber alles muss mit dem Hubschrauber hier hochgeflogen werden. Das treibt die Preise in die Höhe. Wenn man die Kinder sieht und die Möglichkeiten, die sich durch den Neubau ergeben, dann muss diese Schule in Simikot gebaut werden.

Auch meine deutsche Bekannte bestätigt mir wie wichtig Lesen und Schreiben für die Kinder ist. Und dass es wichtig ist eine Schule vor Ort zu haben, damit auch die ärmeren Kinder eine Chance haben auf Bildung. Die Kailash-Bodhi-School bietet wohl auch Internatsplätze in Katmandu an, die durch Patenschaften aus Deutschland finanziert werden. Aber in der Hauptstadt sind die Kinder von ihrer Familie getrennt und sehen ihre Eltern oft lange Zeit nicht. Wenn Renate jetzt von ihren Dörfern erzählt, in denen sie hier oben arbeitet, wird mir vieles klarer. Und es ist mehr als Abenteuerlust, wenn man beschließt in dieser Gegend zu leben und zu helfen. Bei mir geht es am nächsten Tag mit dem Flugzeug zurück.

Was bleibt sind Bilder in meinem Kopf. Von dem kleinen Mädchen in den Bergen, dem wir Süßigkeiten schenkten und das danach den Berg runterlief, die Tüten in der Hand weit nach oben gehalten, um sie mit ihrer großen Schwester zu teilen. Die ältere Frau, die uns in Simikot entgegenkam, nach dem sie hörte dass wir etwas mit der Schule zu tun haben. Sie wollte nur wissen wie es ihrem Sohn ging, den sie vor 2 Jahren in unsere Schule in die Hauptstadt gebracht hatte. Seid dem hat sie nichts mehr von ihm gehört. Als sie mitbekam, dass es ihm gut geht, strahlte sie und verschwand wieder im Dunkel der Nacht. Und wir wussten in diesem Moment warum es sich lohnt dort oben in den Bergen eine Schule aufzumachen.